- 99 -

Inhaltsverzeichnis.
an Entbehrungen und Grauen gewöhnten Kirchenbesucher des ausgehenden 15. Jahrhunderts.
Dem Eingangsportal vis-à-vis und leicht zu übersehen, da die Fresken den Blick sofort auf sich ziehen, steht eine merkwürdige Kreuzigungsszene. Unauffällig auf den ersten Blick, dann beginnt man zu staunen. Verblüffend zunächst die Kleidung: das prächtige Gewand wirkt, bis hin zu den goldenen Pantoffeln, türkisch inspiriert. Und dann, das hüftlange Haar gehört doch zu einer weib- lichen Gestalt? Aber der Bart spricht deutlich dagegen. Nicht dazu passend und recht verloren kniet daneben eine auf Holz gemalte Figur mit Geige.
Beim Abgeben des Schlüssels im Messnerhaus erfahren wir Näheres.
Es handelt sich um eine Darstellung der im ausgehenden Mittelalter beim Volk sehr beliebten 'Kümmernis'. Die mit dieser Gestalt verknüpfte Sage geht zurück auf das 13. Jahrhundert, auf den Fund einer in Fürstenkleider gehüllten, gekreuzigten Figur in Lucca (Toskana). Es soll sich um die Darstellung eines ungewöhnlichen Familiendramas handeln.
Ein Fürst wollte seine schöne Tochter einem heidnischen Adligen zur Frau geben. Das war für die fromme Christin ein unerträgliches Ansinnen; sie flehte zu Gott, er möge sie entstellen, damit die Verbindung nicht zustande käme; und über Nacht wuchs ihr ein gewaltiger Bart. Der Vater war so erzürnt, daß er seine Tochter ans Kreuz nageln ließ. Nun vereint diese Gestalt weibliche und männ- liche Züge - und bietet die seltene Möglichkeit der Identifikation für Gläubige beiderlei Geschlechts.
Eine spätere Legende weiß von einem armen Geiger zu berichten, der an diesem Kreuz inbrünstig betete. Da ließ 'Kümmernis' dem Musikanten einen ihrer goldenen Pantoffel zu Füßen fallen. Der allerdings brachte den Mann fast ums Leben, denn als er ihn im Dorf zeigte, wurde er des Kirchenraubes bezichtigt und zum Tode verurteilt. Sein letzter Wunsch war, noch einmal vor diesem Kreuz spielen zu dürfen. Nun ließ die Gekreuzigte auch den zweiten